Montag, 28. August 2017

Albanien Reise 2016 - 10. Reisetag


Heike
Rüttelpiste ohne Ende

Es ist halb sieben, als Frank und ich zugleich erwachen. Der Blick aus unseren Gagenfenstern zeigt uns Berge, die in nebliges Licht gehüllt sind. Obwohl ich sonst so gern aus dem Bett in den neuen Tag hinein springe, ist es heute ausschließlich Verantwortungsbewusstsein für Freddy, die mich mit ihm zu einem Frühmorgenspaziergang aufbrechen lässt. Derweil Frank noch ein wenig vor sich hin döst.

Nachdem Frühstück lehnen Frank und ich mich in unseren Stühlen nach hinten, schauen, horchen. Wir lieben beide die Stille. Aber diese Stille, so absurd es auch klingen mag - ist uns zu still. Schon gestern Abend als wir an unserem kleinen Feuer saßen, war um uns herum so absolut nichts zu hören. Kein Tiergeräusch, kein Knacken in den Büschen. Und nun am Morgen - Kein Vogel singt, kein Hahn kräht, keine Insekten summen. Von der Familie die lautlos auftaucht, fühlen wir uns beinahe erschreckt. Im Schweigemarsch ziehen sie an uns vorbei. Mutter, Vater und der Junge um die vierzehn Jahre erwidern unseren Gruß mit einem kurzen kaum wahrnehmbaren Kopfnicken. Die vielleicht sechszehnjährige Tochter, die am Ende der Vierergruppe läuft, erwidert unser Lächeln und hält den Blickkontakt zu mir.
Gestikulierend frage ich, was sie sammeln gehen. Sie fischt aus ihrem Sack einige Esskastanien, zeigt mir dann ihre Sichel, die sie am Gürtel trägt und von dort auf die mageren Grasbüschel. Zwischendurch schaut sie immer wieder ängstlich auf den Rücken ihrer Eltern, als könnten diese unserer zarten Kontaktaufnahme kritisch gegenüber treten. Auch ich sammle einige von den leckeren Früchten der Kastanie auf. Am Abend werde ich jeder Einzelnen mit einem scharfen Messer ein Kreuz in den Leib ritzen, sie anschließend im heißem Wasser köcheln und wenn sich die äußere Schale abschälen lässt und ein jedes nur noch ein dünnes Nachthemd trägt in die Glut unseres Lagerfeuers betten.
Mein Beutel füllt sich, parallel zu einem schlechten Gewissen, hervor gerufen durch Fragen: Wie arm sind die Menschen hier überhaupt? Nehme ich ihnen möglicherweise mit meiner Sammelaktion etwas weg, was sie viel dringender als wir benötigen?
Etwas Unsichtbares setzt sich auf mich drauf, kriecht in mich hinein. Kann sich ein Land trotz landschaftlicher Schönheit und Weite schwer anfühlen? Gibt es Menschen die dies fühlen? „Weißt du“, sage ich zu Frank, während  ich meinen halb gefüllten Beutel auf den Tisch lege, „als wir gestern der so lebensfrohen Frau an ihrem Obststand begegneten, wiegte ich mich in der Hoffnung, dass wir nun auf unserer Reise ins Hinterland, endlich auf die im Reiseführer als so freundlich und hilfsbereit beschriebenen Menschen treffen. Doch plötzlich wird mir bewusst, dass Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft ja nicht unbedingt Hand in Hand gehen müssen mit Lebensfreude, Neugier und Offenheit. Und genau das fehlt mir hier.“ „Ich weiß, was du meinst“, erwidert Frank, „Es ist als wäre dieses Land von Melancholie überzogen.“
Gegen Mittag verlassen wir „unsere“ Weide und nehmen Kurs auf unser heutiges Ziel der Stadt Klos.
Gleich im nächsten Dorf sehen wir vier Männer die Schubkarren voller Weintrauben vor sich herschieben, begleitet von drei kleinen Jungs. „Halt mal an“, bitte ich Frank. „Vielleicht verkaufen sie uns ein paar Trauben.“ Männer und Kinder starren mich an, kein einziges Gefühl ist in ihren Gesichtern erkennbar. Ich trage mein Anliegen auf Englisch vor. Dann gestikuliere ich. Worauf sich ein Gefühl zeigt: Erstaunen. Ein Mann kramt eine zerknitterte Zeitung ans Tageslicht, fängt an diese zu einer Tüte umzufunktionieren. Ein anderer Mann bastelt eine zweite Tüte. Ich wehre ab, eine Tüte reicht. Doch schon wird eine dritte Tüte angefertigt. Alle drei Tüten werden gefüllt und mir dann in die Arme gedrückt. Ich möchte bezahlen, doch die Männer winken ab. Ich bedanke mich, doch ganz geschenkt bekommen möchte ich die Trauben nicht. Also hole ich eine Tafel Rittersport und überreiche sie den Kindern. Erwarte ich zu viel, wenn ich ein kleines Lächeln vermisse? Nicht wegen der Schokolade sondern einfach wegen unserer Begegnung?
Nachdem Dorf hört die löchrig asphaltierte Straße auf. Frank schaut auf Landkarte und GPS. „Verstehe ich nicht, wir sind immer noch auf der gelb eingezeichneten Straße.“ Nur, dass die Straße zur Piste geworden ist, ab und an belegt mit größeren und kleineren Steinen. Unser Buchtaxi hüpft über diese Steinabschnitte mehr als das es fährt. Es geht an Abgründen entlang, durch Bäche hindurch, mehr als 20 km/h sind nie drin.
Wenn Frank auf 5km/ h verringern muss, springe ich während der Fahrt von meinem Beifahrersitz, sammle Pilze auf, lege einen kleinen Sprint ein und springe wieder zu. Um uns ist eine Berglandschaft, die weit, einsam und wunderschön ist. Die ersten vierzig Kilometer gestalten sich so auch recht kurzweilig. Doch dann zieht sich jeder einzelne Kilometer entsetzlich in die Länge. Pilze haben wir nun ausreichend, Menschen oder Tieren begegnen wir nicht, bei dem Gespringe und Gerüttle ist weder an dösen, lesen oder schreiben zu denken, noch nicht mal an das Denken selbst. Freddy lassen wir aller paar Kilometer vor dem Auto herlaufen, wenn er davon genug hat, bellt er uns an und wir lassen ihn zurück ins Fahrzeug.
„Sag mal, war das ein Cafe`?“ Ich drehe mich nach hinten um. Doch, wer kommt hierher zum Kaffee trinken? Rundherum ist nichts als die Landschaft, nur weiter unten im Tal stehen einige Häuser. Das hier viele Fahrzeuge vorbei kommen scheint mehr als unwahrscheinlich. Jedenfalls ist bisher niemand entgegen gekommen, ist uns hinter her gefahren oder hat uns gar überholt. „Halt bitte an, ich frag mal, ob ich einen Espresso bekomme.“
„Okay“, antwortet Frank. „Ich komme gleich nach.“ Das Cafe´ ist innen genauso trostlos, wie es von außen wirkt. Nur ein paar Tische und Stühle mehr stehen drinnen, als davor standen. Der Wirt kommt auf mich zu und fragt gestikulierend was ich wolle. „Kaffee, Espresso?“, frage ich. Kurz darauf wirft der Wirt eine altertümliche Espressomaschine an. Hinterm Tresen entdecke ich zwei Chipstüten. Ich habe Hunger, doch die Tüten sind weder geeignet diesen zu stillen, noch schmecken mir Chips. Dazu sind die Tüten mit einer dicken Staubschicht bedeckt.
Also Hände auf den Bauch gelegt, mit Mund und Fingern Essverlangen angezeigt. Es muss doch hier noch was Anderes geben. Vielleicht sogar ein warmes Essen. Kartoffeln mit Gemüse wären super. Der Wirt versteht mich nicht. Also zeige ich auf den Raum, indem ich die Küche vermute. Der Mann schaut mich ratlos an, geht dann in den mutmaßlichen Küchenraum und winkt mich hinterher. Ich solle mich umschauen, gestikuliert er. Es ist eine Küche, nur das es nirgends etwas Essbares zu entdecken gibt. Dafür liegt auf einem Sofa ein junger Mann, der sich bei meinem Anblick entschuldigend aufrichtet. Der Wirt scheint ihn zu bitten, für uns den Dolmetscher zu spielen. Nur spricht auch der junge Mann kein Wort Englisch. Jedoch versteht er mein Gestikulieren. Er öffnet den Kühlschrank und holt den einzigen Inhalt heraus.
Okay, nicke ich, dann halt Schafskäse ohne Alles. Damit schnappe ich mir meinen Espresso und setze mich nach draußen an den wackeligen Tisch. Frank setzt sich zu mir. „Gibt es hier was zu essen?“ „Schafskäse.“ Frank schaut mich verwundert an. „Salat mit Schafskäse und Fladenbrot?“ In diesem Moment tritt der Wirt aus seinem Lokal. „Nein, Schafskäse pur auf einem Teller mit Messer und Gabel serviert. Jedoch könnte ich dazu unsere Melone aus dem Auto holen. Und es wären noch zwei Chipstüten mit abgelaufenen Verfallsdatum zu erwerben.“ Ich stehe auf, mein Schmunzeln nicht unterdrückend. Frank wird weder das Eine, noch das Andere besonders gut munden, satt wird er davon auch nicht. Und genau diese Erkenntnis steht ihm gerade im Gesicht geschrieben. Der Wirt der mich mit der Melone zurück kommen sieht, läuft ins Lokal hinein und kommt gleich darauf mit einem großen Teller und riesigem Messer zurück. Gemeinsam schlachten wir die grüne Kuller, das Fruchtfleisch ist herrlich saftig und dunkelrot. Wir bieten dem Wirt an mit uns zu essen. Zaghaft nimmt er die Einladung an.
Während die Männer nach unserem gemeinsamen Mittagessen in die Landschaft schauen, sitze ich bei meinem dritten Espresso und lese mich in die Geschichte von Albanien hinein. 
Weiter geht es auf der Piste, die in keinster Weise den Namen Straße verdient und doch trägt.
Nach insgesamt sechzig Kilometern und vier reinen Fahrstunden rollen wir über Asphalt, und Frank sagt etwas, was ich nie geglaubt hätte einmal von ihm zu hören, „Diese Piste ging mir zum Schluss aber so etwas von auf den Nerv.“
Wir erreichen die Stadt Klos und sehen als erstes etliche Plattenbauten, mehr als herunter gekommen und doch bewohnt. Wir parken in der Geschäftsstraße, begeben uns auf die Suche nach Brot und Gemüse.
„Oh Mann ist das abgewrackt hier“, raunt mir Frank zu. „Und ausschließlich Männer sind unterwegs“, füge ich hinzu. „Nicht eine einzige Frau.“ Meine Blicke schweifen umher. Bin ich hier wirklich noch in Europa? „Eigentlich wollte ich uns hier einen Übernachtungsplatz suchen“, sagt Frank, nachdem wir Brot, Gemüse und Eier eingekauft haben. „Aber ich glaube, wir sollten weiter fahren. Was meinst du?"
Meine Antwort kommt rasch: „Nur weg von hier.“ Im Toyota schauen wir uns die Karte an. „Wir könnten heute noch die sechzig Kilometer bis Peshkopi fahren“, sagt Frank. „Laut Reiseführer ist die Straße bis dorthin durchgehend asphaltiert. Dazu ist die Straße orange eingezeichnet, das heißt es handelt sich um eine wichtige Fernverkehrsstraße. Damit könnten wir in zwei Stunden da sein. Laut Womo App gibt es in Peshkopi einen kleinen umzäunten Zeltplatz, inmitten eines Weinberges auf einem Privatgrundstück mit Familienanschluss.“
„Ist dir schon mal aufgefallen“, fragt Frank, als wir nach wenigen Kilometern durch ein Dorf fahren, „dass es in Albanien weder Ortseingangs- oder Ausgangsschilder gibt. Und auch keine Hinweis- oder Verkehrszeichen? Ohne GPS wären wir hier echt aufgeschmissen.“
„Ja. Und das sämtliche Häuser sich in einem furchtbar desolatem Zustand befinden. Dazu gibt es kaum mal eine Blume zu sehen. Sonst hat doch selbst die ärmlichste Behausung einen Blumentopf vorzuweisen.“
Nach dem Dorf teilt sich die Straße. „Merkwürdig!“ Frank hält an. „Die Asphaltstraße biegt nach links ab. Unser GPS weist nach rechts.“ „Vielleicht ist ja die Straße neu und taucht deshalb noch nicht bei GPS auf?“  „Du meinst sie führt nur auf der anderen Seite um den Berg herum?“ „Keine Ahnung. Aber ich denke, wir sollten der Asphaltstraße folgen. Wo soll sie denn sonst hingehen als in die nächste Stadt, die nun mal Peshkopi ist?!“ Falsch gedacht. Nach sechs Kilometern endet die Straße in einem Dorf oder besser gesagt: Einer Ansammlung von wenigen Häusern, die dem Zerfall wesentlich näher sind als wir unserem Ziel. Wir finden einen Mann, der uns zurück schickt bis zur Abzweigung, dort sollen wir nach rechts abbiegen.“  „Vielleicht wurde ja nach dem Dorf nur ein Stück Asphalt vergessen“, sage ich an der Abzweigung, und mache mir damit selbst Mut. 
Erneut falsch gedacht. Kilometer für Kilometer, Serpentine für Serpentine vergeht, die Piste bleibt Piste und damit ist unsere Durchschnittsgeschwindigkeit wieder mal bei 10 bis 20 km/ h angelangt.
„Wie kann man im Reiseführer von einer asphaltierten Straße sprechen, wo es keine gibt“, schimpft Frank. „Die Tante, die das geschrieben hat, ist doch niemals den Weg selbst ab gefahren.“ Im Reiseführer steht auch, dass es in Albanien keine Bergungsfahrzeuge gibt, keine Krankentransporte und nur eine äußerst mangelhafte medizinische Versorgung vorhanden ist. Genau das geht mir gerade durch den Kopf.  Die Abenddämmerung geht schnell in Dunkelheit über, dazu setzt Starkregen ein. Jetzt hüpfen wir nicht nur mit dem Buschtaxi über Stock und Stein sondern wir schlingern auch immer häufiger. Dazu taucht vor meinem inneren Auge die Geschichte Albaniens auf. Seitdem Mittelalter wurde das Land immer wieder unterdrückt und mit Gewalt überschüttet. Und das scheinbar ohne jegliche Unterbrechungen! Ohne längere friedliche Zeiten! Mit Enver Hoxha (1941 gründete er die Kommunistische Partei Albaniens) wurde es nicht besser (schon ein wenig merkwürdig:  E.E. steht sowohl für Enver Hoxha als auch für Erich Honecker). Enver Hoxha, der kommunistischer Diktator der Albanien durch vier Jahrzehnte radikaler Abschottung in den toten Winkel Europas trieb, der in fast allen Städten Foltergefängnisse errichten ließ, die stetig überfüllt waren, der in seinem Verfolgungswahn das Land mit einer Million Bunkeranlagen übersäte und ebenso mit Misstrauen, Angst, Bespitzelung und Verrat durchwebte. Der den ersten völlig atheistischen Staat der Welt anstrebte und dieses mit aller Gewalt bis in das kleinste Bergdorf hinein durchsetzte. Fünfzig lange Jahre hin durch, denn erst 1990 wurde das kommunistische Regime gestürzt. Was webt so eine Geschichte in die Herzen der Menschen die in so einem Land leben müssen? Menschen, die jedem und allen misstrauen mussten, für die Verrat selbst in der eigenen Familie, wie das tägliche Brot gewesen sein muss? Für die Bespitzelung, Folter und Mord zum Lebensalltag gehörte? Was geschieht mit Menschen, denen man ihren Glauben mit Gewalt ausprügelte? Was mit Menschen die keinen Glauben mehr haben, weder an die Geborgenheit und Sicherheit einer Familie, noch an Gott, Allah, Buddha, der Weltenseele oder sonstigem Höheren? Was bewirkt das Fehlen von Mythen und Sagen? Das Fehlen von schöngeistigen Dingen? Von Liebe und Vertrauen? Wie viele Generationen sind notwendig, bis es eine Generation schafft die tief verwurzelten Ängste, das festgebissene Misstrauen, die furchtbare Trauer und die damit verbundene Schwermut wirklich auszurotten?  Und ist dies überhaupt möglich, wenn  in einem Land des 20. Jahrhunderts noch immer nach einem mündlich überlieferten Gesetz aus dem Mittelalter gelebt wird – dem Kanun, eine Art Verhaltenskondex?
Franks Stimme dringt wie in Watte eingepackt zu mir. „Wir sollten uns entscheiden, entweder hier in den Bergen schlafen, vorausgesetzt wir finden eine Ausbuchtung, die breit genug wäre, um überhaupt stehen bleiben zu können. Oder weiter fahren, was bei dieser Dunkelheit und dem Regen nicht ungefährlich ist.“
„Sag mal, weinst du?!“
Frank rüttelt meine kalte Hand. „Was ist denn los mit Dir? Geht es Dir nicht gut? Ist ja auch verständlich nach insgesamt sieben Stunden harter Piste. Und dann noch dieses Scheißwetter.“
„Ich bringe uns heil hier durch. Sag mir einfach, was du willst. Dachzelt hier in den Bergen aufstellen? Weiter nach Peshkopi? Oder an einer Bauernkate halten und von unserem Gastrecht Gebrauch machen?“
„Keine Bauernkate. Keine Ansammlung von Menschen“, schluchze ich. „Die Menschen, gerade hier in den Bergen, leben noch nach einem alten Gesetzestext aus dem Mittelalter, dem sogenannten Kanun. Eine Frau ist laut diesem Kanun nichts weiter als ein Schlauch, indem die Ware transportiert wird. Das ist so wortwörtlich festgehalten. Verstehst du jetzt, warum wir in den Dörfern kaum Frauen zu Gesicht bekommen? Frauen haben hier absolut keinen Wert. Ihr Blut ist sogar so unwürdig, um damit einen Toten sühnen zu können. Das heißt, es gibt hier noch das Recht der Blutrache. Auch, wenn der Staat dies mittlerweile verboten hat, wird diese Blutrache mehr als aktiv gelebt. Es soll viele Jungen über zwölf Jahre geben, die nie mehr auf die Straße gehen können, nie mehr in die Schule, nie mehr in den Garten, in die Berge, an den See, weil dort auf sie aufgelauert wird, mit dem einzigen Zweck, sie umzubringen. Weil irgendeiner in ihrer Familie einem Anderen in einer anderen Familie etwas angetan hat. Laut Kanun sind Jungs ab ihrem zwölften Lebensjahr Männer und müssen die Ehre der Familie verteidigen oder dafür sterben. Dort wo es ein Opfer gibt, gibt es einen Täter und damit wieder ein neues Opfer und wieder einen neuen Täter.  Das hört nie auf! Ich hätte mich damit nie beschäftigen sollen. Doch ich habe es getan. Vorhin im Cafe´ und danach im Auto. Viele Menschen im Land sind nicht nur arm und ungebildet, sondern auch sehr unzufrieden. Daher reicht mittlerweile ein böses Wort, eine harmlose Beleidigung, ein Streit um Geld oder ein Autounfall, damit ein Mann einen anderen erschlägt und die Blutrache aktiviert wird. Frank ein Autounfall! Was ist, wenn du hier in den Bergen einen Menschen anfährst, den wir im Dunklen nicht gesehen haben. Wirst du dafür umgebracht? Und ich als Schlauch missbraucht? Und wenn wir hier von der Piste abrutschen und in die Tiefe stürzen ....“ 
Frank unterbricht mich. „Uns wird nichts passieren. Wir fahren bis Peshkopi, und wenn wir die ganze Nacht dafür brauchen.“
Nach zwei weiteren endlos erscheinenden Stunden bekommen wir Asphalt unter die Räder und erreichen zügig die Stadt. Frank hält vor einem riesigen Tor und verschwindet rechts daneben durch eine kleine Pforte. Ich habe mich mittlerweile wieder unter Kontrolle, fühle mich jedoch erschöpft. 
Eine Frau öffnet uns das große Tor und winkt mir zu. Bilde ich mir das ein? Oder ist da tatsächlich Mitgefühl in ihren Augen, so, als würde sie wissen, durch welche Ängste ich in den letzten Stunden gegangen bin? Und warum hört sie erst auf zu winken, als ich zurück winke? Was zugebenerweise einige Zeit dauert, da mein Körper sich kalt und erstarrt anfühlt. Der Zeltplatz ist ein Garten, der höchstens fünf Stellplätze für Womo´s bietet (derzeit sind wir die einzigen Camper), der Weinberg kein Berg sondern eine Ebene, auf der etliche Weinreben wachsen. Die Frau erklärt im dürftigem Englisch, sie würde gerne für uns kochen, wir würden hungrig aussehen. 10 Euro pro Person täte das Essen kosten. Wir nehmen dankend an. Während Frank das Dachzelt aufstellt, Freddy durch den Garten springt, setze ich mich auf die Terrasse des Hauses und öffne mir eine Rotweinflasche. Im Haus klappern Töpfe, der Regen tropft aufs Dach, der Wein entfaltet schneller seine Wirkung als erhofft. Die Erstarrung meines Körpers löst sich, wohlige Wärme breitet sich aus.
Eine jüngere Frau betritt die Terrasse, stellt sich auf Englisch als Schwiegertochter vor. Sie lädt uns ins Haus ein, das Essen sei vorbereitet. Das Haus wirkt genau so gepflegt und sauber wie der Garten. Frank und ich sitzen an einem kleinen Tisch mit sauberer blümchenbestickter Tischdecke, inmitten des Eingangsflures. Frank schaut auf die Hauseingangstür, ich auf die Tür der Küche (dahinter klappert es), nach rechts verschwand die junge Frau, von links kommt ein Mann aus der Tür, der uns freundlich zunickt und auf Englisch fragt, ob wir auch Gäste seien. Auf unser „Yes“  hin, erzählt er, dass er in Mazedonien lebe und jedes Jahr sich für ein paar Tage hier im Haus ein Gästezimmer nehme. Denn so könnte er seinen rheumageplagten Beinen in der Thermalquelle der Stadt Linderung zukommen lassen. Die Küchentür öffnet sich und unser Essen wird serviert. Frische Weintrauben, Nudeln mit gebratenem Fleisch, selbst gemachte Pommes, weiches Brot, in einer Art Joghurtsoße eingelegte Gurken, eine saure Cremesoße mit darin schwimmenden sehr scharfen Früchten, für jeden ein großes Stück Torte, eine Flasche selbst gekelterten Wein. Ich schiebe Frank mein Stück Torte zu und ziehe die Flasche Wein zu mir. Er, der Alkohol nicht mag und alkoholisierte Menschen noch weniger, schweigt als ich mir ein Glas nach dem anderen genehmige. Wir essen alles bis auf den letzten Krümel auf, wenn auch die scharfen Früchte in der Cremesoße mehr als gewöhnungsbedürftig sind.
Nachdem Essen gesellen sich Schwiegermutter und Tochter zu uns. Die sechsundzwanzigjährige junge Frau hat zwei kleine Kinder, die mit im Haus leben, welches höchstens achtzig Quadratmeter messen kann. Das bedeutet es leben drei Generationen auf weniger als 70 Quadratmetern. Denn zumindest ein Zimmer ist ja für Gäste reserviert.
Ich frage die junge Frau, wo und wie sie ihre Kinder geboren hat. Die Geschichte die sie uns daraufhin erzählt ist erschreckend. Es gibt in Peshkopi, trotz einer Einwohnerzahl von mehr als 13.000 Menschen keine Geburtshilfliche Abteilung. Alle Frauen müssen in das einhundertachtzig Kilometer entfernte Tirana (Hauptstadt von Albanien). Wer Glück hat, hat dort Verwandte und die schwangere Frau kann bei ihnen einige Wochen vor dem errechneten Entbindungstermin unterkommen. Wer Pech hat fährt mit Geburtswehen los,  wer noch mehr Pech hat, bekommt das Kind unterwegs. Die junge Frau hat Glück gehabt, denn sie hat Verwandte in Tirana und trotz einer schlechten Versorgung im Krankenhaus konnte sie ihre Kinder gut zur Welt bringen. Ich traue mir nicht zu fragen, wie hoch die Sterblichkeit von Müttern und Kindern unter der Geburt in Albanien ist. In Deutschland kommen wir auf fast Null. Dies kann den Tatsachen angerechnet werden, dass wir in jeder größeren Stadt einen sehr gut ausgestatteten Kreißsaal mit Operationssaal haben, ebenso gut ausgerüstete Krankenwagen und vor allem sehr gut ausgebildetes  Personal. Wenn es immer noch Leute gibt, die behaupten früher hätten die Frauen auch bei uns „nicht so ein Theater gemacht und am Feldrand entbunden“, dann kann man uneingeschränkt sagen, dies sind sehr ungebildete Menschen. Sicherlich wird ab und an eine Frau auf dem Feld mit Wehen überrascht wurden sein. Und ab und an musste wohl eine Frau auch am Feldrand ihr Kind bekommen. Doch hatte dies damit zu tun, dass es früher kein Handy gab, kein Auto und der Weg vom Feld nach Hause mehrere Kilometer betragen konnte. Also, wie dann Hilfe holen? Wie mit Wehen schnell vorwärts kommen? Dazu kommt: Früher hat es sicherlich ebenso geschmerzt ein Kind unter der Geburt zu verlieren, den Tod einer Mutter unter der Geburt zu verzeichnen, zu erleben, dass ein Kind einen Sauerstoffschaden unter der Geburt erlitt. Aber es wurde auch als hartes nicht abwendbares Schicksal hingenommen. Wenn heute einem Kind oder seiner Mutter auch nur „ein winziges Haar unter der Geburt gekrümmt wird“, stehen Hebamme und Arzt vor Gericht.
Frank fragt: „Wie seht ihr die Zukunft Albanien´s?“ Die Gesichter der beiden Frauen verdunkeln sich. Beide zeigen mit dem Daumen nach unten. Obwohl es ihnen auf Grund der Vermietung von zwei Zimmern und Stellplätzen für albanische Verhältnisse recht gut gehe,  sehen  sie dennoch keine Hoffnung auf eine gute Zukunft für ihr Land. Die gesamte medizinische Versorgung sei ein Desaster, ebenso die Schulausbildung der Kinder.  Überall im Land herrsche Korruption, alte Seilschaften würden weiterhin ihre Macht missbrauchen, all die schlimmen Verbrechen aus der kommunistischen Zeit wurden nie aufgearbeitet, die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft herangezogen und bestraft. Arges Misstrauen und große Unzufriedenheit gäbe es im ganzen Land, ebenso Armut und Hoffnungslosigkeit. Ohne ihr großes Tor und dem hoch eingezäunten Garten würden sie sich nicht sicher fühlen.

Als wir bereits in Dachzelt liegen, sagt Frank: „Oh Mann, da macht sich die EU Gedanken, wie krumm eine Banane sein darf, ob alle Äpfel die gleiche Form haben sollten und all so einen Schwachsinn. Doch wie so einem armen Land, das zudem noch mitten in Europa liegt, zu helfen sei, das steht nicht auf der Tagesordnung. Die Menschen Albaniens fühlen sich vergessen und noch immer verraten. Und es scheint nichts zu geben, dass sie glauben machen könnte, eines Tages würde es endlich bergauf gehen.“

*  *  *  *  *  *

Unsere Empfelungen für Albanien: 


Amazon-Link:



https://www.amazon.de/gp/offer-listing/3707915476/ref=as_li_tl?ie=UTF8&camp=1638&creative=6742&creativeASIN=3707915476&linkCode=am2&tag=httpheikeundf-21 
     
https://www.amazon.de/gp/product/3831764247/ref=as_li_tl?ie=UTF8&camp=1638&creative=6742&creativeASIN=3831764247&linkCode=as2&tag=httpheikeundf-21
 


Alle Amazon-Links sind sogenannte Affiliate-Links. Das bedeutet, du gelangst auf die Seite des Händlers, wo weitere Informationen für dich bereit gestellt werden und du das Produkt auch kaufen kannst. Wenn du die Produkte über diesen Link kaufst, unterstützt du uns in unserer Arbeit für dieen Blog, weil wir eine kleine Provision erhalten. Für dich entstehen aber keine Mehrkosten.



2 Kommentare:

  1. Liebe Heike,

    mit Spannung habe ich die nächsten Abenteuer erwartet, jedoch nicht damit gerechnet, dass es auch so traurig und bedrückend werden würde.
    Es ist doch für die gesamte Menschheit ziemlich erbärmlich, dass einige Menschen immer noch unter solchen Bedingungen leben müssen.
    Aber erstaunlich finde ich, die Herzlichkeit und Gastfreundschaft ...
    Ich warte auf weitere spannende Erzählungen und freue mich aufs Weiterlesen.

    Liebe Grüße
    Yvonne

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Liebe Yvonne,
      ganz lieben Dank für Deinen Kommentar.
      Es freut mich sehr, dass Du Dich aufs Weiterlesen freust.
      Alles Liebe
      Heike

      Löschen