Rüttelpiste ohne Ende
Es
ist halb sieben, als Frank und ich zugleich erwachen. Der Blick aus unseren
Gagenfenstern zeigt uns Berge, die in nebliges Licht gehüllt sind. Obwohl ich
sonst so gern aus dem Bett in den neuen Tag hinein springe, ist es heute
ausschließlich Verantwortungsbewusstsein für Freddy, die mich mit ihm zu einem
Frühmorgenspaziergang aufbrechen lässt. Derweil Frank noch ein wenig vor sich
hin döst.
Nachdem
Frühstück lehnen Frank und ich mich in unseren Stühlen nach hinten, schauen,
horchen. Wir lieben beide die Stille. Aber diese Stille, so absurd es auch
klingen mag - ist uns zu still. Schon gestern Abend als wir an unserem kleinen
Feuer saßen, war um uns herum so absolut nichts zu hören. Kein Tiergeräusch,
kein Knacken in den Büschen. Und
nun am Morgen - Kein Vogel singt, kein Hahn kräht, keine Insekten summen. Von
der Familie die lautlos auftaucht, fühlen wir uns beinahe erschreckt. Im
Schweigemarsch ziehen sie an uns vorbei. Mutter, Vater und der Junge um die
vierzehn Jahre erwidern unseren Gruß mit einem kurzen kaum wahrnehmbaren
Kopfnicken. Die vielleicht sechszehnjährige Tochter, die am Ende der
Vierergruppe läuft, erwidert unser Lächeln und hält den Blickkontakt zu mir.
Gestikulierend
frage ich, was sie sammeln gehen. Sie fischt aus ihrem Sack einige
Esskastanien, zeigt mir dann ihre Sichel, die sie am Gürtel trägt und von dort
auf die mageren Grasbüschel. Zwischendurch schaut sie immer wieder ängstlich
auf den Rücken ihrer Eltern, als könnten diese unserer zarten Kontaktaufnahme
kritisch gegenüber treten. Auch
ich sammle einige von den leckeren Früchten der Kastanie auf. Am Abend werde
ich jeder Einzelnen mit einem scharfen Messer ein Kreuz in den Leib ritzen, sie
anschließend im heißem Wasser köcheln und wenn sich die äußere Schale abschälen
lässt und ein jedes nur noch ein dünnes Nachthemd trägt in die Glut unseres
Lagerfeuers betten.
Mein
Beutel füllt sich, parallel zu einem schlechten Gewissen, hervor gerufen durch
Fragen: Wie arm sind die Menschen hier überhaupt? Nehme ich ihnen
möglicherweise mit meiner Sammelaktion etwas weg, was sie viel dringender als
wir benötigen?
Etwas
Unsichtbares setzt sich auf mich drauf, kriecht in mich hinein. Kann sich ein
Land trotz landschaftlicher Schönheit und Weite schwer anfühlen? Gibt es
Menschen die dies fühlen? „Weißt du“, sage ich zu Frank, während ich meinen halb gefüllten Beutel auf den
Tisch lege, „als wir gestern der so lebensfrohen Frau an ihrem Obststand
begegneten, wiegte ich mich in der Hoffnung, dass wir nun auf unserer Reise ins
Hinterland, endlich auf die im Reiseführer als so freundlich und hilfsbereit
beschriebenen Menschen treffen. Doch plötzlich wird mir bewusst, dass
Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft ja nicht unbedingt Hand in Hand gehen
müssen mit Lebensfreude, Neugier und Offenheit. Und genau das fehlt mir hier.“
„Ich weiß, was du meinst“, erwidert Frank, „Es ist als wäre dieses Land von
Melancholie überzogen.“
Gleich
im nächsten Dorf sehen wir vier Männer die Schubkarren voller Weintrauben vor
sich herschieben, begleitet von drei kleinen Jungs. „Halt mal an“, bitte ich
Frank. „Vielleicht verkaufen sie uns ein paar Trauben.“ Männer und Kinder
starren mich an, kein einziges Gefühl ist in ihren Gesichtern erkennbar. Ich
trage mein Anliegen auf Englisch vor. Dann gestikuliere ich. Worauf sich ein Gefühl zeigt: Erstaunen. Ein Mann kramt eine zerknitterte Zeitung ans
Tageslicht, fängt an diese zu einer Tüte umzufunktionieren. Ein anderer Mann
bastelt eine zweite Tüte. Ich wehre ab, eine Tüte reicht. Doch schon wird eine
dritte Tüte angefertigt. Alle drei Tüten werden gefüllt und mir dann in die
Arme gedrückt. Ich möchte bezahlen, doch die Männer winken ab. Ich bedanke mich,
doch ganz geschenkt bekommen möchte ich die Trauben nicht. Also hole ich eine
Tafel Rittersport und überreiche sie den Kindern. Erwarte ich zu viel, wenn ich
ein kleines Lächeln vermisse? Nicht wegen der Schokolade sondern einfach wegen
unserer Begegnung?
Nachdem
Dorf hört die löchrig asphaltierte Straße auf. Frank schaut auf Landkarte und
GPS. „Verstehe ich nicht, wir sind immer noch auf der gelb eingezeichneten
Straße.“ Nur, dass die Straße zur Piste geworden ist, ab und an belegt mit
größeren und kleineren Steinen. Unser Buchtaxi hüpft über diese Steinabschnitte
mehr als das es fährt. Es geht an Abgründen entlang, durch Bäche hindurch, mehr
als 20 km/h sind nie drin.
Wenn
Frank auf 5km/ h verringern muss, springe ich während der Fahrt von meinem Beifahrersitz,
sammle Pilze auf, lege einen kleinen Sprint ein und springe wieder zu. Um
uns ist eine Berglandschaft, die weit, einsam und wunderschön ist. Die ersten
vierzig Kilometer gestalten sich so auch recht kurzweilig. Doch dann zieht sich jeder
einzelne Kilometer entsetzlich in die Länge. Pilze haben wir nun ausreichend,
Menschen oder Tieren begegnen wir nicht, bei dem Gespringe und Gerüttle ist
weder an dösen, lesen oder schreiben zu denken, noch nicht mal an das Denken
selbst. Freddy lassen wir aller paar Kilometer vor dem Auto herlaufen, wenn er
davon genug hat, bellt er uns an und wir lassen ihn zurück ins Fahrzeug.
„Sag
mal, war das ein Cafe`?“ Ich drehe mich nach hinten um. Doch, wer kommt hierher zum Kaffee trinken? Rundherum ist nichts als die
Landschaft, nur weiter unten im Tal stehen einige Häuser. Das hier viele
Fahrzeuge vorbei kommen scheint mehr als unwahrscheinlich. Jedenfalls ist
bisher niemand entgegen gekommen, ist uns hinter her gefahren oder hat uns gar
überholt. „Halt bitte an, ich frag mal, ob ich einen Espresso bekomme.“
Also
Hände auf den Bauch gelegt, mit Mund und Fingern Essverlangen angezeigt. Es
muss doch hier noch was Anderes geben. Vielleicht sogar ein warmes Essen.
Kartoffeln mit Gemüse wären super. Der Wirt versteht mich nicht. Also zeige ich
auf den Raum, indem ich die Küche vermute. Der Mann schaut mich ratlos an, geht
dann in den mutmaßlichen Küchenraum und winkt mich hinterher. Ich solle mich
umschauen, gestikuliert er. Es ist eine Küche, nur das es nirgends etwas
Essbares zu entdecken gibt. Dafür liegt auf einem Sofa ein junger Mann, der
sich bei meinem Anblick entschuldigend aufrichtet. Der Wirt scheint ihn zu bitten,
für uns den Dolmetscher zu spielen. Nur spricht auch der junge Mann kein Wort
Englisch. Jedoch versteht er mein Gestikulieren. Er öffnet den Kühlschrank und
holt den einzigen Inhalt heraus.
Okay,
nicke ich, dann halt Schafskäse ohne Alles. Damit schnappe ich mir meinen
Espresso und setze mich nach draußen an den wackeligen Tisch. Frank setzt sich
zu mir. „Gibt es hier was zu essen?“ „Schafskäse.“ Frank schaut mich verwundert
an. „Salat mit Schafskäse und Fladenbrot?“ In
diesem Moment tritt der Wirt aus seinem Lokal. „Nein,
Schafskäse pur auf einem Teller mit Messer und Gabel serviert. Jedoch könnte
ich dazu unsere Melone aus dem Auto holen. Und es wären noch zwei Chipstüten
mit abgelaufenen Verfallsdatum zu erwerben.“ Ich stehe auf, mein Schmunzeln
nicht unterdrückend. Frank wird weder das Eine, noch das Andere besonders gut
munden, satt wird er davon auch nicht. Und genau diese Erkenntnis steht ihm
gerade im Gesicht geschrieben. Der Wirt der mich mit der Melone zurück kommen
sieht, läuft ins Lokal hinein und kommt gleich darauf mit einem großen Teller
und riesigem Messer zurück. Gemeinsam schlachten wir die grüne Kuller, das
Fruchtfleisch ist herrlich saftig und dunkelrot. Wir bieten dem Wirt an mit uns
zu essen. Zaghaft nimmt er die Einladung an.
Während
die Männer nach unserem gemeinsamen Mittagessen in die Landschaft schauen,
sitze ich bei meinem dritten Espresso und lese mich in die Geschichte von
Albanien hinein.
Weiter
geht es auf der Piste, die in keinster Weise den Namen Straße verdient und doch
trägt.
Nach
insgesamt sechzig Kilometern und vier reinen Fahrstunden rollen wir über
Asphalt, und Frank sagt etwas, was ich nie geglaubt hätte einmal von ihm zu
hören, „Diese Piste ging mir zum Schluss aber so etwas von auf den Nerv.“
Wir erreichen die Stadt Klos und sehen als
erstes etliche Plattenbauten, mehr als herunter gekommen und doch bewohnt. Wir parken in der Geschäftsstraße, begeben uns
auf die Suche nach Brot und Gemüse.
„Oh
Mann ist das abgewrackt hier“, raunt mir Frank zu. „Und ausschließlich Männer
sind unterwegs“, füge ich hinzu. „Nicht eine einzige Frau.“ Meine
Blicke schweifen umher. Bin ich hier wirklich noch in Europa? „Eigentlich wollte ich uns hier einen
Übernachtungsplatz suchen“, sagt Frank, nachdem wir Brot, Gemüse und Eier
eingekauft haben. „Aber
ich glaube, wir sollten weiter fahren. Was meinst du?"
Meine Antwort kommt rasch: „Nur weg von hier.“ Im Toyota schauen wir uns die Karte an. „Wir könnten heute noch die sechzig Kilometer bis Peshkopi fahren“, sagt Frank. „Laut Reiseführer ist die Straße bis dorthin durchgehend asphaltiert. Dazu ist die Straße orange eingezeichnet, das heißt es handelt sich um eine wichtige Fernverkehrsstraße. Damit könnten wir in zwei Stunden da sein. Laut Womo App gibt es in Peshkopi einen kleinen umzäunten Zeltplatz, inmitten eines Weinberges auf einem Privatgrundstück mit Familienanschluss.“
Meine Antwort kommt rasch: „Nur weg von hier.“ Im Toyota schauen wir uns die Karte an. „Wir könnten heute noch die sechzig Kilometer bis Peshkopi fahren“, sagt Frank. „Laut Reiseführer ist die Straße bis dorthin durchgehend asphaltiert. Dazu ist die Straße orange eingezeichnet, das heißt es handelt sich um eine wichtige Fernverkehrsstraße. Damit könnten wir in zwei Stunden da sein. Laut Womo App gibt es in Peshkopi einen kleinen umzäunten Zeltplatz, inmitten eines Weinberges auf einem Privatgrundstück mit Familienanschluss.“
„Ist
dir schon mal aufgefallen“, fragt Frank, als wir nach wenigen Kilometern durch
ein Dorf fahren, „dass es in Albanien weder Ortseingangs- oder Ausgangsschilder
gibt. Und auch keine Hinweis- oder Verkehrszeichen? Ohne GPS wären wir hier
echt aufgeschmissen.“
„Ja.
Und das sämtliche Häuser sich in einem furchtbar desolatem Zustand befinden.
Dazu gibt es kaum mal eine Blume zu sehen. Sonst hat doch selbst die ärmlichste
Behausung einen Blumentopf vorzuweisen.“
Nach
dem Dorf teilt sich die Straße. „Merkwürdig!“ Frank hält an. „Die Asphaltstraße
biegt nach links ab. Unser GPS weist nach rechts.“ „Vielleicht
ist ja die Straße neu und taucht deshalb noch nicht bei GPS auf?“ „Du meinst sie führt nur auf der anderen Seite
um den Berg herum?“ „Keine
Ahnung. Aber ich denke, wir sollten der Asphaltstraße folgen. Wo soll sie denn
sonst hingehen als in die nächste Stadt, die nun mal Peshkopi ist?!“ Falsch
gedacht. Nach sechs Kilometern endet die Straße in einem Dorf oder besser
gesagt: Einer Ansammlung von wenigen Häusern, die dem Zerfall wesentlich näher
sind als wir unserem Ziel. Wir finden einen Mann, der uns zurück schickt bis
zur Abzweigung, dort sollen wir nach rechts abbiegen.“ „Vielleicht wurde ja nach dem Dorf nur ein
Stück Asphalt vergessen“, sage ich an der Abzweigung, und mache mir damit
selbst Mut.
Erneut falsch gedacht. Kilometer für Kilometer, Serpentine für Serpentine vergeht, die Piste bleibt Piste und damit ist unsere Durchschnittsgeschwindigkeit wieder mal bei 10 bis 20 km/ h angelangt.
Erneut falsch gedacht. Kilometer für Kilometer, Serpentine für Serpentine vergeht, die Piste bleibt Piste und damit ist unsere Durchschnittsgeschwindigkeit wieder mal bei 10 bis 20 km/ h angelangt.
„Wie
kann man im Reiseführer von einer asphaltierten Straße sprechen, wo es keine
gibt“, schimpft Frank. „Die Tante, die das geschrieben hat, ist doch niemals
den Weg selbst ab gefahren.“ Im
Reiseführer steht auch, dass es in Albanien keine Bergungsfahrzeuge gibt, keine
Krankentransporte und nur eine äußerst mangelhafte medizinische Versorgung
vorhanden ist. Genau das geht mir gerade durch den Kopf. Die Abenddämmerung geht schnell in Dunkelheit
über, dazu setzt Starkregen ein. Jetzt hüpfen wir nicht nur mit dem Buschtaxi
über Stock und Stein sondern wir schlingern auch immer häufiger. Dazu taucht
vor meinem inneren Auge die Geschichte Albaniens auf. Seitdem Mittelalter wurde
das Land immer wieder unterdrückt und mit Gewalt überschüttet. Und das scheinbar
ohne jegliche Unterbrechungen! Ohne längere friedliche Zeiten! Mit Enver Hoxha (1941
gründete er die Kommunistische Partei Albaniens) wurde es nicht besser (schon
ein wenig merkwürdig: E.E. steht sowohl
für Enver Hoxha als auch für Erich Honecker). Enver Hoxha, der kommunistischer
Diktator der Albanien durch vier Jahrzehnte radikaler Abschottung in den toten
Winkel Europas trieb, der in fast allen Städten Foltergefängnisse errichten
ließ, die stetig überfüllt waren, der in seinem Verfolgungswahn das Land mit einer
Million Bunkeranlagen übersäte und ebenso mit Misstrauen, Angst, Bespitzelung
und Verrat durchwebte. Der den ersten völlig atheistischen Staat der Welt
anstrebte und dieses mit aller Gewalt bis in das kleinste Bergdorf hinein
durchsetzte. Fünfzig lange Jahre hin durch, denn erst 1990 wurde das
kommunistische Regime gestürzt. Was webt so eine Geschichte in die Herzen der
Menschen die in so einem Land leben müssen? Menschen, die jedem und allen
misstrauen mussten, für die Verrat selbst in der eigenen Familie, wie das
tägliche Brot gewesen sein muss? Für die Bespitzelung, Folter und Mord zum
Lebensalltag gehörte? Was geschieht mit Menschen, denen man ihren Glauben mit
Gewalt ausprügelte? Was mit Menschen die keinen Glauben mehr haben, weder an
die Geborgenheit und Sicherheit einer Familie, noch an Gott, Allah, Buddha, der
Weltenseele oder sonstigem Höheren? Was bewirkt das Fehlen von Mythen und
Sagen? Das Fehlen von schöngeistigen Dingen? Von Liebe und Vertrauen? Wie viele
Generationen sind notwendig, bis es eine Generation schafft die tief
verwurzelten Ängste, das festgebissene Misstrauen, die furchtbare Trauer und die damit
verbundene Schwermut wirklich auszurotten?
Und ist dies überhaupt möglich, wenn
in einem Land des 20. Jahrhunderts noch immer nach einem mündlich
überlieferten Gesetz aus dem Mittelalter gelebt wird – dem Kanun, eine Art
Verhaltenskondex?
Franks
Stimme dringt wie in Watte eingepackt zu mir. „Wir sollten uns entscheiden,
entweder hier in den Bergen schlafen, vorausgesetzt wir finden eine
Ausbuchtung, die breit genug wäre, um überhaupt stehen bleiben zu können. Oder
weiter fahren, was bei dieser Dunkelheit und dem Regen nicht ungefährlich ist.“
„Sag
mal, weinst du?!“
Frank
rüttelt meine kalte Hand. „Was ist denn los mit Dir? Geht es Dir nicht gut? Ist
ja auch verständlich nach insgesamt sieben Stunden harter Piste. Und dann noch
dieses Scheißwetter.“
„Ich
bringe uns heil hier durch. Sag mir einfach, was du willst. Dachzelt hier in den
Bergen aufstellen? Weiter nach Peshkopi? Oder an einer Bauernkate halten und
von unserem Gastrecht Gebrauch machen?“
„Keine Bauernkate. Keine Ansammlung von Menschen“,
schluchze ich. „Die Menschen, gerade hier in den Bergen, leben noch nach einem
alten Gesetzestext aus dem Mittelalter, dem sogenannten Kanun. Eine Frau ist
laut diesem Kanun nichts weiter als ein Schlauch, indem die Ware transportiert
wird. Das ist so wortwörtlich festgehalten. Verstehst du jetzt, warum wir in
den Dörfern kaum Frauen zu Gesicht bekommen? Frauen haben hier absolut keinen
Wert. Ihr Blut ist sogar so unwürdig, um damit einen Toten sühnen zu können.
Das heißt, es gibt hier noch das Recht der Blutrache. Auch, wenn der Staat dies
mittlerweile verboten hat, wird diese Blutrache mehr als aktiv gelebt. Es soll
viele Jungen über zwölf Jahre geben, die nie mehr auf die Straße gehen können,
nie mehr in die Schule, nie mehr in den Garten, in die Berge, an den See, weil
dort auf sie aufgelauert wird, mit dem einzigen Zweck, sie umzubringen. Weil
irgendeiner in ihrer Familie einem Anderen in einer anderen Familie etwas
angetan hat. Laut Kanun sind Jungs ab ihrem zwölften Lebensjahr Männer und
müssen die Ehre der Familie verteidigen oder dafür sterben. Dort wo es ein
Opfer gibt, gibt es einen Täter und damit wieder ein neues Opfer und wieder
einen neuen Täter. Das hört nie auf! Ich
hätte mich damit nie beschäftigen sollen. Doch ich habe es getan. Vorhin im
Cafe´ und danach im Auto. Viele Menschen im Land sind nicht nur arm und ungebildet, sondern auch sehr
unzufrieden. Daher reicht mittlerweile ein böses Wort, eine harmlose
Beleidigung, ein Streit um Geld oder ein Autounfall, damit ein Mann einen
anderen erschlägt und die Blutrache aktiviert wird. Frank ein Autounfall!
Was ist, wenn du hier in den Bergen einen Menschen anfährst, den wir im Dunklen
nicht gesehen haben. Wirst du dafür umgebracht? Und ich als Schlauch
missbraucht? Und wenn wir hier von der Piste abrutschen und in die Tiefe
stürzen ....“
Frank unterbricht mich. „Uns
wird nichts passieren. Wir fahren
bis Peshkopi, und wenn wir die ganze Nacht dafür brauchen.“
Nach
zwei weiteren endlos erscheinenden Stunden bekommen wir Asphalt unter die Räder
und erreichen zügig die Stadt. Frank hält vor einem riesigen Tor und
verschwindet rechts daneben durch eine kleine Pforte. Ich habe mich
mittlerweile wieder unter Kontrolle, fühle mich jedoch erschöpft.
Eine
Frau öffnet uns das große Tor und winkt mir zu. Bilde ich mir das ein? Oder ist
da tatsächlich Mitgefühl in ihren Augen, so, als würde sie wissen, durch welche
Ängste ich in den letzten Stunden gegangen bin? Und warum hört sie erst auf zu
winken, als ich zurück winke? Was zugebenerweise einige Zeit dauert, da
mein Körper sich kalt und erstarrt anfühlt. Der Zeltplatz
ist ein Garten, der höchstens fünf Stellplätze für Womo´s bietet (derzeit sind
wir die einzigen Camper), der Weinberg kein Berg sondern eine Ebene, auf der
etliche Weinreben wachsen. Die Frau erklärt im dürftigem Englisch, sie würde
gerne für uns kochen, wir würden hungrig aussehen. 10 Euro pro Person täte das
Essen kosten. Wir nehmen dankend an. Während Frank das Dachzelt aufstellt,
Freddy durch den Garten springt, setze ich mich auf die Terrasse des Hauses und
öffne mir eine Rotweinflasche. Im Haus klappern Töpfe, der Regen tropft aufs
Dach, der Wein entfaltet schneller seine Wirkung als erhofft. Die Erstarrung
meines Körpers löst sich, wohlige Wärme breitet sich aus.
Eine
jüngere Frau betritt die Terrasse, stellt sich auf Englisch als
Schwiegertochter vor. Sie lädt uns ins Haus ein, das Essen sei vorbereitet. Das
Haus wirkt genau so gepflegt und sauber wie der Garten. Frank und ich sitzen an
einem kleinen Tisch mit sauberer blümchenbestickter Tischdecke, inmitten des
Eingangsflures. Frank schaut auf die Hauseingangstür, ich auf die Tür der Küche
(dahinter klappert es), nach rechts verschwand die junge Frau, von links kommt
ein Mann aus der Tür, der uns freundlich zunickt und auf Englisch fragt, ob wir
auch Gäste seien. Auf unser „Yes“ hin,
erzählt er, dass er in Mazedonien lebe und jedes Jahr sich für ein paar Tage
hier im Haus ein Gästezimmer nehme. Denn so könnte er seinen rheumageplagten Beinen in der
Thermalquelle der Stadt Linderung zukommen lassen. Die Küchentür öffnet
sich und unser Essen wird serviert. Frische Weintrauben, Nudeln mit gebratenem
Fleisch, selbst gemachte Pommes, weiches Brot, in einer Art Joghurtsoße
eingelegte Gurken, eine saure Cremesoße mit darin schwimmenden sehr scharfen
Früchten, für jeden ein großes Stück Torte, eine Flasche selbst gekelterten
Wein. Ich schiebe Frank mein Stück Torte zu und ziehe die Flasche Wein zu mir.
Er, der Alkohol nicht mag und alkoholisierte Menschen noch weniger, schweigt als
ich mir ein Glas nach dem anderen genehmige. Wir essen alles bis auf den
letzten Krümel auf, wenn auch die scharfen Früchte in der Cremesoße mehr als
gewöhnungsbedürftig sind.
Nachdem
Essen gesellen sich Schwiegermutter und Tochter zu uns. Die
sechsundzwanzigjährige junge Frau hat zwei kleine Kinder, die mit im Haus
leben, welches höchstens achtzig Quadratmeter messen kann. Das bedeutet es
leben drei Generationen auf weniger als 70 Quadratmetern. Denn zumindest ein
Zimmer ist ja für Gäste reserviert.
Ich
frage die junge Frau, wo und wie sie ihre Kinder geboren hat. Die Geschichte
die sie uns daraufhin erzählt ist erschreckend. Es gibt in Peshkopi, trotz einer
Einwohnerzahl von mehr als 13.000 Menschen keine Geburtshilfliche Abteilung.
Alle Frauen müssen in das einhundertachtzig Kilometer entfernte Tirana
(Hauptstadt von Albanien). Wer Glück hat, hat dort Verwandte und die schwangere
Frau kann bei ihnen einige Wochen vor dem errechneten Entbindungstermin unterkommen.
Wer Pech hat fährt mit Geburtswehen los,
wer noch mehr Pech hat, bekommt das Kind unterwegs. Die junge Frau hat Glück
gehabt, denn sie hat Verwandte in Tirana und trotz einer schlechten
Versorgung im Krankenhaus konnte sie ihre Kinder gut zur Welt bringen. Ich
traue mir nicht zu fragen, wie hoch die Sterblichkeit von Müttern und Kindern
unter der Geburt in Albanien ist. In Deutschland kommen wir auf fast Null. Dies
kann den Tatsachen angerechnet werden, dass wir in jeder größeren Stadt einen
sehr gut ausgestatteten Kreißsaal mit Operationssaal haben, ebenso gut
ausgerüstete Krankenwagen und vor allem sehr gut ausgebildetes Personal. Wenn es immer noch Leute gibt, die
behaupten früher hätten die Frauen auch bei uns „nicht so ein Theater gemacht
und am Feldrand entbunden“, dann kann man uneingeschränkt sagen, dies sind sehr
ungebildete Menschen. Sicherlich wird ab und an eine Frau auf dem Feld mit
Wehen überrascht wurden sein. Und ab und an musste wohl eine Frau auch am
Feldrand ihr Kind bekommen. Doch hatte dies damit zu tun, dass es früher kein
Handy gab, kein Auto und der Weg vom Feld nach Hause mehrere Kilometer betragen
konnte. Also, wie dann Hilfe holen? Wie mit Wehen schnell vorwärts kommen? Dazu kommt: Früher hat es sicherlich ebenso geschmerzt ein Kind unter der Geburt zu
verlieren, den Tod einer Mutter unter der Geburt zu verzeichnen, zu erleben,
dass ein Kind einen Sauerstoffschaden unter der Geburt erlitt. Aber es wurde
auch als hartes nicht abwendbares Schicksal hingenommen. Wenn heute einem Kind
oder seiner Mutter auch nur „ein winziges Haar unter der Geburt gekrümmt wird“,
stehen Hebamme und Arzt vor Gericht.
Frank
fragt: „Wie seht ihr die Zukunft Albanien´s?“ Die Gesichter der
beiden Frauen verdunkeln sich. Beide zeigen mit dem Daumen nach unten. Obwohl
es ihnen auf Grund der Vermietung von zwei Zimmern und Stellplätzen für
albanische Verhältnisse recht gut gehe,
sehen sie dennoch keine Hoffnung
auf eine gute Zukunft für ihr Land. Die gesamte medizinische Versorgung sei ein
Desaster, ebenso die Schulausbildung der Kinder. Überall im Land herrsche Korruption, alte
Seilschaften würden weiterhin ihre Macht missbrauchen, all die schlimmen
Verbrechen aus der kommunistischen Zeit wurden nie aufgearbeitet, die
Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft herangezogen und bestraft. Arges Misstrauen
und große Unzufriedenheit gäbe es im ganzen Land, ebenso Armut und
Hoffnungslosigkeit. Ohne ihr großes Tor und dem hoch eingezäunten Garten würden
sie sich nicht sicher fühlen.
Als
wir bereits in Dachzelt liegen, sagt Frank: „Oh Mann, da macht sich die EU
Gedanken, wie krumm eine Banane sein darf, ob alle Äpfel die gleiche Form haben
sollten und all so einen Schwachsinn. Doch wie so einem armen Land, das zudem
noch mitten in Europa liegt, zu helfen sei, das steht nicht auf der
Tagesordnung. Die Menschen Albaniens fühlen sich vergessen und noch
immer verraten. Und es scheint nichts zu geben, dass sie glauben machen könnte,
eines Tages würde es endlich bergauf gehen.“
* * * * * *
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Liebe Heike,
AntwortenLöschenmit Spannung habe ich die nächsten Abenteuer erwartet, jedoch nicht damit gerechnet, dass es auch so traurig und bedrückend werden würde.
Es ist doch für die gesamte Menschheit ziemlich erbärmlich, dass einige Menschen immer noch unter solchen Bedingungen leben müssen.
Aber erstaunlich finde ich, die Herzlichkeit und Gastfreundschaft ...
Ich warte auf weitere spannende Erzählungen und freue mich aufs Weiterlesen.
Liebe Grüße
Yvonne
Liebe Yvonne,
Löschenganz lieben Dank für Deinen Kommentar.
Es freut mich sehr, dass Du Dich aufs Weiterlesen freust.
Alles Liebe
Heike